Entdeckungen


Genau so wie es gemalte Bilder gibt, die so aussehen, als wären es Fotografien, gibt es auch Fotografien, die den Anschein erwecken, es handele sich um gemalte Bilder, um abstrakte Werke. Zu diesen gehören auch viele der Fotografien von Hermann Kirchhof.
Erst schwarzweiß, später in Farbe, fotografierte und fotografiert Hermann Kirchhof zwar Landschaften, doch sieht man weder Berge noch Täler. Denn Hermann Kirchhof fotografiert das Detail. Das kann verwittertes Holz sein, im Wald liegend, das aussieht wie ein abstraktes Relief oder ein wenig Schnee, auf den Schatten fallen und bei dem man eher das Gefühl hat, es handele sich um eine weite Wüstenlandschaft, in der man meint, das Flirren der Sonne zu spüren. 
Im gefrorenen Schneematsch erstarrte Gasblasen werden zu schwimmenden Kugeln und gefrorenes Eis erinnert an die Frottagen von Max Ernst. 
In all den Bildern ahnt man die Natur, erkennt aber häufig nur mit Hilfe der ausführlichen Titel, worum es sich wirklich handelt.
Das ist aber oft gar nicht entscheidend. Wichtiger sind die Formen, die in einen Dialog miteinander treten oder eine graphische Komposition ergeben wie das im Wasser sich spiegelnde Schilf, bei dem die Entwicklung des Fotopapiers vorzeitig abgebrochen wurde.
Hermann Kirchhof beobachtet seine Umgebung sehr genau. Und so entdeckt er auch im Mikrokosmos seines Gartens immer wieder neue Motive. Da schwimmen im Herbst auf dem Fischteich drei Blätter. Das vom Ginkobaum ist grün. Die anderen beiden haben eine herbstliche Färbung angenommen. Auf ihnen schimmern Wassertropfen wie Perlen. Daraus wird ein Bild, bei dem die Farben harmonieren, die Blätter in eine Beziehung zueinander treten. Es ist kein Bild für den schnellen Blick. Aber das sind sie alle nicht. Und deshalb nennt Hermann Kirchhof sie auch Meditationsbilder.
Entdeckungen macht er täglich und völlig unerwartet. Beim morgendlichen Gang zum Briefkasten beispielsweise. Es hatte geregnet und durch den Regen waren Blüten des Goldregen, der dort steht, auf die Platten vor dem Briefkasten gefallen und dort liegengeblieben, ebenso wie einige wenige Blätter. Ein anderer hätte sich geärgert, einen Besen genommen, und die Platten sauber gekehrt. Hermann Kirchhof holte seine Leica und machte ein wunderschönes Bild. Der Ausschnitt, den er wählte, zeigt ein einziges rotes Blatt im Verein mit den Goldregenblüten.

Das sind nun Farbaufnahmen, denn vor etwa fünfundzwanzig Jahren wurde es ein Luxus, schwarzweiß zu fotografieren, wenn man kein eigenes Fotolabor besaß. Die Motive jedoch blieben genauso wie die Art der Aufnahmen. Flechten, die sich auf Felsen bei Zermatt angesiedelt haben, besitzen je nach Himmelsrichtung eine andere Färbung. So wie sie Hermann Kirchhof fotografiert hat, werden sie zu Farben und Formen, sie wirken - wie eingangs erwähnt - wie Gemälde, teils abstrakt, teils aber auch gegenständlich. So hat sich in einer dieser Flechten Napoleon versteckt - Hermann Kirchhof hat ihn sofort erkannt und fotografiert. Die Felsen selbst, auf denen sich die Flechten angesiedelt haben bilden durch ihre Schichtung Strukturen, die je nach Standort oder Lichteinfall immer wieder andere Eindrücke hervorrufen. Felsbrocken im Wasser wirken wie sich dort tummelnde Delphine. Andere glotzen einen an oder wirken in sich gekehrt, zurückgezogen. Ein teilweise von Pflanzen überwucherter Stein, mit Moos bewachsen und an einer Stelle zersprungen, wirkt, aus der richtigen Perspektive betrachtet, wie ein melancholisches Gesicht. Und dann gibt es die Baumgeister, die vor allem in den Arven oder auch Zirbelkiefern, wohnen. Arven wachsen in den Alpen, also auch in der Nähe von Zermatt, am Matterhorn. Immer wieder zieht es den Fotografen dorthin und immer neues entdeckt er in den knorzigen alten Bäumen, die durch Blitzeinschlag und Feuer teilweise verwundet sind, aber immer noch weiter wachsen. Hermann Kirchhof gelingt es mit seinen Fotografien, Dinge in der Natur sichtbar machen, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Damit überträgt er eines der wichtigsten Prinzipien der Künstler der klassischen Moderne auf die Fotografie. Die lange in München lebende russische Malerin und eine der wichtigsten Wegbereiterinnen der abstrakten Malerei, Marianne von Werefkin, formulierte dieses Prinzip bereits 1908 folgendermaßen: "Kunst ist dazu da, Dinge sichtbar zu machen, die nicht sind, die höchstens Spiegelungen der realen Welt in der Seele des Künstlers sein können. Träume der Künstlerseele, welche die Wirklichkeiten umhüllen." Susanna Partsch